Gasthauskind
Roman, 2009 - zusammen mit Ingried Wohllaib
erhältlich bei Piper-Verlag

Geheimnisvollerweise spielte Ostern bei uns immer eine große Rolle. Am Vormittag oder am Vorabend hatten die Stammgäste auf Anweisung meiner Mutter Ostereier versteckt. Manchmal auch Zuckerhasen, altrosa, transparent. Vermutlich hatten die Erwachsenen den eigentlichen Spaß an diesem Ritual, denn sie vergaßen es nie. Wir Kinder suchten, sie torkelten freudig um uns herum.

Es gibt in diesem Gasthaus keine Privatsphäre, keine Freizeit. Morgens vor der Schule steigt Isabel über Schnapsleichen, nachmittags soll sie abspülen, Ofenrohre anstreichen, Wäsche aufhängen, bedienen, abends hört sie sich tränenselige Geständnisse über sexuelle Probleme an. Sie erfährt die enge Verknüpfung von Bigotterie und Perversion. Wer unter solchen Bedingungen heranwächst, gewinnt kein freundliches Menschenbild.

Ingried Wohllaib ist Autodidaktin. Dennoch glaube ich nicht, dass sich nur wegen der kompositorischen und sprachlichen Unwuchten des Urtextes so lange kein Verleger fand. Der Text provoziert. Immer wieder höre ich Reaktionen wie: „Das ist ja wohl überspitzt. Solche Szenen habe ich am Stammtisch nie erlebt. Ein Freund von mir ist ebenfalls im Gasthaus aufgewachsen, und er fand es ganz toll.“ Ich wundere mich. „Gasthauskind“ ist keine Enzyklopädie, es lebt von subjektiver Erfahrung. Ist die Heldin gerecht? Nein, aber kann man das verlangen? Isabel definiert sich über den Protest. Sie bleibt eine Außenseiterin.

„Gasthauskind“ zeigt die „Dienstleistungsgesellschaft“ von unten, und übrigens aus Frauenperspektive: die Ausbeutung, die Verfügbarkeit, das Ausgeliefertsein an Leute, die hier einen Freiraum finden, um sich „endlich mal“ gehenzulassen. Das Buch erweitert die erzählte Welt um einen Stück Neuland, Abgründe eingeschlossen. Doch es zeigt auch manche Utopie: Isabels Begegnungen mit der Natur zum Beispiel. Ihre Entdeckung der ästhetischen Welt, der Bilder, der Kunst. Und, besonders anrührend, eine Begegnung mit „verlässlichen Menschen“, Aussiedlern, die in einem ärmlichen Haus am Ortsrand leben: