Der Elefant im Zimmer. Über Machtmissbrauch und Widerstand.
Essay, 2020
Erhältlich als Taschenbuch wie als eBook bei Penguin Verlag

Die Akademie der stummen Dichter

PETRA MORSBACH HAT EIN UNTERHALTSAMES BUCH GESCHRIEBEN – ÜBER DIE MACHT UND WAS GESCHIEHT, WENN DEREN MISSBRAUCH AUFGEDECKT WIRD

33 konkrete Empfehlungen für Menschen, die sich zu widersprechen trauen
INTERVIEW: SABINE REITHMAIER

Machtmissbrauch und Opportunismus sind Themen, mit denen sich Petra Morsbach seit lan-gem auseinandersetzt. In ihrem eben erschienenen Essay „Der Elefant im Zimmer“ (Pengu-in-Verlag) untersucht die Schriftstellerin auf kluge und unterhaltsame Art und Weise drei reale Fälle des Widerstands gegen Machtmissbrauch. Ihr Fokus liegt allerdings weniger auf dem eigentlichen Missbrauch als auf den Krisen, die der Aufdeckung folgten. Die erste Bege-benheit ist ein Kirchenskandal aus dem Jahr 1995, in dessen Mittelpunkt der pädophile öster-reichische Kardinal Hans Hermann Groër stand. Der zweite Fall betrifft einen politischen Skandal aus der jüngeren bayerischen Geschichte: Den Fall Modellbau um die damalige Mi-nisterin Christine Haderthauer und ihren Ehemann. In den dritten Fall war Petra Morsbach selbst verwickelt, er spielte sich überwiegend in den Jahren 2010/11 still und leise an der Akademie der Schönen Künste in München ab.

SZ: Was war der Anlass für Ihre Auseinandersetzung mit der Akademie?
Petra Morsbach: Plötzlich sollte es keine Buchvorstellungen mehr geben. Es war quasi ein Dichterlesungsverbot. Aus meiner Sicht eine autoritäre Anmaßung und ein Verstoß gegen die Kunstfreiheit.

Gab es einen konkreten Grund für diese Vorschrift?
Es gibt keinen Grund, der die Kunstfreiheit aufwöge. In Artikel 5 Absatz 3 Grundgesetz steht: „Kunst ist frei. Diese Freiheit entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ Da niemand von uns gegen die Verfassung verstieß, war das Verbot rechtswidrig. Übrigens bekannte sich auch keiner dazu, es erfunden zu haben. Ohne vorgeschlagen und diskutiert worden zu sein, sollte es plötzlich gelten, wie in einer Kafka-Posse.

Was sagte die Literaturabteilung dazu?
Einige Schriftsteller protestierten, doch die Funktionäre (Präsident und Abteilungsdirektor, Anm. der Red.) erklärten, dass ihre Vorschrift über den Wünschen der Künstler stünde.
Und die Künstler widersprachen nicht?
Sie fügten sich; das war für mich das eigentliche Rätsel. Nicht der Verzicht einzelner auf selbstbestimmte Akademiearbeit war das Problem, sondern die Bereitschaft der Mehrheit, ein Selbstbestimmungsverbot für alle zu schlucken. Warum nehmen Menschen Machtmissbrauch nicht nur hin, sondern vertuschen und verteidigen ihn sogar, obwohl sie dadurch ge-schädigt werden? Das ist die Ausgangsfrage meines Essays. Für mich zeigt diese Geschichte die tiefe Ohnmacht unseres Bewusstseins im Umgang mit Macht.

Woher kommt diese Ohnmacht?
Macht wird in unserer Gesellschaft tabuisiert, also tut man so, als spielte sie keine Rolle. Doch je mehr man sie verdrängt oder mystifiziert, desto mehr ist man davon besessen. Das Englische kennt dafür eine schöne Metapher: der Elefant im Zimmer (the elephant in the room).

Statuswörter haben Ihrer Ansicht nach auf unsere Gehirne eine toxische Wirkung. Steckt da ebenfalls eine persönliche Erfahrung dahinter?
In meiner Erinnerung steigerten sich die autoritären Übergriffe, als unser Klassensprecher – so nannten wir den Sprecher der Literaturklasse – , begann, auf den Titel Direktor Wert zu legen. Ein Klassensprecher ist ein Primus inter Pares, kein Chef. Der Titel Direktor suggeriert ein Gewaltverhältnis. Wozu braucht man den? Die Unabhängigkeit von Hierarchien ist ja ge-rade der Witz der schönen Literatur.

Das Thema beschäftigt Sie offensichtlich sehr lang. Aber erst nach dem großen Erfolg Ihres Romans „Justizpalast“ haben Sie es riskiert, daraus einen Essay zu machen. Hielt Sie vorher die Befürchtung zurück, von den „Mächtigen“ der Literaturszene ins Abseits gedrängt zu werden?
Das hatte schon seine Gründe. Aber das Thema beschäftigte mich, weil ich immer wieder solche Geschichten hörte, und es für unsere Gesellschaft von Bedeutung ist, wie wir mit Machtmissbrauch umgehen. Tabus müssen ans Licht. So kam ich auf die Idee, drei reale kurze, übersichtliche Fälle zu beschreiben. Vielleicht lässt sich daraus etwas lernen?

Warum drei Fälle?
Die Settings sind verschieden. In der römisch-katholischen Kirche gibt es offiziell viel Moral, aber kaum Regularien zur Machtkontrolle. In der Politik gibt es jede Menge Regularien, bei deutlich weniger Moral. Die Akademie schließlich war freie Wildbahn, dort waren weder Rechte noch Pflichten schriftlich niedergelegt. Interessant: Die Machtmissbraucher wussten jeweils genau, wie weit sie gehen durften. Die Ähnlichkeit ihrer Reaktionen hat mich verblüfft.

Inwiefern ähneln sie sich?
Eine Standardreaktion ertappter Mächtiger, die in allen drei Fällen vorkommt, ist der narzisstische Wutbrief. Er soll den Adressaten einschüchtern und diffamieren und gegebenen-falls die schweigende Mehrheit gegen ihn aufbringen. Die rhetorischen Mittel sind immer dieselben: autoritärer Stil, der Gestus moralischer Entrüstung, die gekränkte Unschuld, ein aggressiver Züchtigungston, Drohgebärden; Generalisierungen statt Fakten. Solche Briefe zu lesen, ist so unangenehm wie der Blick in ein wutverzerrtes Gesicht. Wer sie aber mit kaltem Auge prüft, erkennt Feigheit und Bluff – die Attacke verbirgt nackte Argumentationsnot.

Ein Beispiel?
In meinem ersten Fall berichtete eines Tages ein ehemaliger Klosterschüler der Zeitschrift profil, wie er von seinem Religionslehrer sexuell missbraucht wurde. Dieser Lehrer war inzwischen Kardinal, der ranghöchste Kleriker Österreichs. Die erste offizielle Reaktion der Kirche war ein Auftritt donnernder Empörung: Zwei Weihbischöfe verglichen scheinbar die Kritiker mit Nazis, warfen der Zeitschrift Verleumdung vor und riefen „alle recht und billig denkenden Menschen“ zum Widerstand auf

War damit nicht zu rechnen?
Schon, aber in Wirklichkeit stand nichts so da, wie es schien: Alle Angriffe waren nur simu-liert. Zum Beispiel wurde profil keineswegs der Verleumdung beschuldigt, man prangerte nur allgemein einen „sogenannten ‚Enthüllungsjournalismus‘“ an, während das Publikum denken sollte, dass profil gemeint sei. So hatte jede einzelne Formulierung ein Schlupfloch. Der Text enthielt nicht mal ein Bekenntnis zum Kardinal, woraus zu schließen ist, dass die Autoren an dessen Unschuld nicht glaubten. Der Auftritt war von vorn bis hinten Suggestion und Abschreckungstheater.

Wie war es im Fall Haderthauer?
Da schreibt der eigentlich oppositionelle Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zwei solche Briefe an das einzige unbeirrbar aufklärungswillige Gremiumsmitglied. Auch im Aka-demiefall gab es eine Eruption, in der Funktionäre die Kritiker des Lesungsverbots mit Vor-würfen und Beschimpfungen überfluteten. Es ist eine Art Kontrollverlust.

Kann man etwas dagegen tun?
Sich nicht einschüchtern lassen. Die Drohungen sind leer, und die Briefe beweisen, dass man den richtigen Nerv getroffen hat. Sie sind unbewusste Schuldbekenntnisse.

Damit ist so ein Fall aber nicht gelöst.
Nein. Aber man sieht, dass die Mächtigen immer nur so gefährlich sind, wie die Unmächti-gen sie sein lassen. Tatsächlich haben in meinen Fällen wenige couragierte Menschen ganze Institutionen in Verlegenheit gebracht. Das ist die gute Nachricht.

Und die schlechte?
Die meisten Unmächtigen neigen dazu, wankende Mächtige zu stabilisieren, gegen alle hö-heren Konzepte. Ich hatte nicht geahnt, in welcher Tiefe des Unbewussten Machtsucht und Gehorsam wurzeln und wie wenig auch gute Gehirne diesen Impulsen gewachsen sind. Die archaischen Affekte sind unentwegt im Spiel und nur durch waches Bewusstsein und kulturel-le Anstrengung in Schach zu halten. Diese Anstrengung muss geleistet werden. Doch je mehr Leute dazu bereit sind, desto leichter wird es für alle.

Am Ende Ihres Buches gibt es einen Katalog mit 33 konkreten Empfehlungen für Men-schen, die sich zu widersprechen trauen. Die Umsetzung der Ratschläge klingt allerdings strapaziös.
Dieser Katalog ist eine Gemeinschaftsarbeit, in den die Anregungen von vielen Kritikern ein-flossen. Er gibt Erfahrungen der härtesten Verlaufsform wieder und richtet sich vor allem an Einzelkritiker. Denn die bedürfen solchen Rats am ehesten. Insgesamt aber hoffe ich gezeigt zu haben, dass Widerstand wirksam ist und eben nicht heroisch sein muss. Manchmal reicht es, bei einer Abstimmung einen Finger zu heben.

Also doch verhaltener Optimismus?
Dem Katalog ist ein Motto von Heinrich Blücher vorangestellt: „Pessimisten sind Feiglinge, und Optimisten sind Dummköpfe.“ Etwas Mut und Verantwortung müssen die Bürger schon aufbringen, wenn sie einen Rechtsstaat wollen. Freiheit ist ein herrliches Privileg, das meine Generation geschenkt bekam, weil mutige Leute in früheren Jahrhunderten es unter Gefahr für Leib und Leben erkämpft haben. Warum sollten wir ohne Gefahr für Leib und Leben kei-nen Widerspruch wagen? Wer seine Freiheit nicht verteidigt, hat sie nicht verdient.

Eigentlich müssten Sie das Buch an der Akademie vorstellen.
Buchvorstellungen macht die Akademie nicht.

Süddeutsche Zeitung vom 01.09.2020